Die AfD betont unermüdlich, fest auf dem Boden unserer Verfassung zu stehen. Der Blick auf ihre europapolitischen Vorstellungen im Abschnitt zuvor hat bereits offenbart, dass die Partei entweder nicht versteht, was das Grundgesetz beinhaltet, oder schlicht und ergreifend nur vorgibt verfassungstreu zu sein. Ich möchte hier an einem Beispiel verdeutlichen, wie sehr es sich bei der von der AfD behaupteten Verfassungstreue um Lippenbekenntnisse ohne Wert handelt.
Der unerträglichen Hetze der AfD gegen Menschen mit biografischen Wurzeln außerhalb Deutschlands ist kaum zu entgehen. Massiv lässt die Partei über allen medialen Kanäle ihr Gift in die Gesellschaft träufeln. Zeitungen und Fernsehen berichten über Entgleisungen, bieten der AfD allerdings mitunter auch eine Plattform, ihre Herabsetzungen und Diffamierungen bestimmter Menschengruppen zu verbreiten. Vor allem aber über das Internet und die Sozialen Medien bedient die Partei ungefiltert und direkt das Publikum mit ihren menschenverachtenden Inhalten. Dabei kann es sich um Äußerungen von Einzelpersonen aus ihren Reihen oder über Verlautbarungen über offizielle Parteikanäle handeln. Bundesbürger*innen mit Wurzeln außerhalb Deutschlands werden als „Passdeutsche“ diskreditiert und zu Bürgern zweiter Klasse erklärt. Die Zahl menschenverachtender und rassistischer Äußerungen aus der AfD, in denen Menschen mit Migrationsgeschichte herabgewürdigt werden und die nicht selten den Verdacht einer Straftat im Sinne einer Beleidigung oder gar der Volksverhetzung begründen, ist mittlerweile unüberschaubar. Ich möchte an nur ein Beispiel aus der schier unfassbaren Zahl entsprechender Aussagen erinnern, um zu verdeutlichen, dass diese Praxis bis in die Parteispitze reicht. So äußerte der damalige AfD-Vorsitzende Alexander Gauland über die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özoguz den Wunsch, sie in „Anatolien zu entsorgen“. Der Duden gibt über die Bedeutung des Wortes genau Auskunft und erklärt, was man „entsorgt“: Müll, Abfall. Herr Gauland bezeichnet die frühere Integrationsbeauftragte also als Müll oder Abfall. In dieser Aussage von 2017 klingen bereits auch Deportationsfantasien an, denen wir auch in der ständigen wiederholten Forderung nach „Remigration“ begegnen. Hinter dem Begriff „Remigration“ steckt nichts weniger als der Versuch, Menschen, welche die AfD nicht als Deutsche liest - auch solchen mit deutscher Staatsbürgerschaft - die Existenzberechtigung in Deutschland abzusprechen.
Wir haben es begriffen: Wenn deine Familie nicht schon seit Generationen in Deutschland ansässig ist, gehörst du für die AfD nicht dazu und kannst auch nie dazugehören.
Aus unzähligen Verlautbarungen aus der AfD lässt sich erkennen, dass die Partei der Vorstellung einer „ethnischen Volksgemeinschaft“ anhängt, d.h. der Idee eines homogenen, unvermischten, ursprünglichen Volkes. Zunächst sei festgestellt: Das Konzept der „homogenen Volksgemeinschaft“ ist ein reines Hirngespinst, denn Migration und Vermischung sind europäische Realität, ethnische Homogenität stellt einen absoluten Sonderfall und eine Ausnahme dar. Noch wichtiger ist allerdings, dass es sich bei diesem Ziel um ein Ideal handelt, das deutlich an den Vorstellungen der Nationalsozialisten orientiert ist und diametral den Prinzipien unserer Verfassung widerspricht.
Warum ist dies so?
Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes lautet:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Ein zunächst schlicht erscheinender Einstieg in einen Verfassungstext, der in seiner Bedeutung und seinen Konsequenzen jedoch nicht unterschätzt werden darf. Artikel 1 durchzieht als sittliches Grundprinzip den weiteren Verfassungstext. Doch was ist die Menschenwürde eigentlich?
Ihr liegt ein bestimmtes Menschenbild zugrunde, das sich aus verschiedenen, religiösen philosophischen und rechtlichen Quellen von Cicero über Thomas von Aquin oder Immanuel Kant speist. Danach handelt es sich beim Menschen um ein sich selbst bewusstes, vernunftbegabtes Wesen, das aus der ihm gegebenen Gewissensfreiheit fähig zur Selbstbestimmung ist. Genau dieses Menschenbild zweifelt die AfD an, wenn sie Menschen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten „Kultur“ bewertet.
Wie sich dieses nun mit der Idee einer „ethnischen Volksgemeinschaft“ verträgt, dazu klärt das Bundesverfassungsgericht auf. Bereits 2017 hat es im Urteil zum NPD-Verbotsantrag festgestellt, dass dieses Konzept eines homogenen Volkes die Menschenwürde missachtet: nämlich die Menschenwürde eben all jener, die dieser „Volksgemeinschaft“ nicht angehören. Das Ziel einer unvermischten Gesellschaft ist also gemäß der Entscheidung unseres höchsten Gerichtes verfassungswidrig. Die AfD erleidet also bereits beim ersten Artikel des Grundgesetzes Schiffbruch!
Die Idee eines „homogenen Volkes“ und damit die Verfassungsfeindlichkeit der AfD tritt dabei nicht nur durch die öffentlich vorgetragenen rassistischen Äußerungen in Medien und Internet ununterbrochen zu Tage, sondern sie ist bereits in den verschiedenen Programmschriften der Partei angelegt, was die folgenden Ausführungen zeigen werden.
Im Grundsatzprogramm der AfD von 2016 ist dabei der Abschnitt „Leitkultur statt Multikulturalismus“ interessant. Hier heißt es u.a.:
„Die Ideologie des Multikulturalismus, die importierte kulturelle Strömungen auf geschichtsblinde Weise der einheimischen Kultur gleichstellt und deren Werte damit zutiefst relativiert, betrachtet die AfD als ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit. Ihr gegenüber müssen der Staat und die Zivilgesellschaft die deutsche kulturelle Identität als Leitkultur selbstbewusst verteidigen.“ (Grundsatzprogramm, S.47)
Wir sehen hier ein gutes Beispiel dafür, wie moderner Rassismus funktioniert. Die Unterscheidung und der Gegensatz verschiedener Menschengruppen wird nicht wie im klassischen Rassismus anhand körperlicher Merkmale konstruiert; es wird nicht mehr biologistisch argumentiert, sondern ein Spurwechsel auf eine kulturalistische Schiene vorgenommen. „Nation“ wird bei der AfD als „kulturelle Einheit“ betrachtet und mit einer „deutschen Identität“ gleichgesetzt. „Importierte kulturelle Strömungen“ würden diese „bedrohen“ und in ihrer Substanz gefährden. Der Begriff „Kultur“ ersetzt hier den Begriff der „Rasse“ und übernimmt dessen zentrale Funktion für die rassistische Ideologie. Jetzt ist es die „Kultur“, nicht mehr die „Rasse“, die als unveränderliches und identitätsstiftendes Wesensmerkmal begriffen wird. Die Konsequenz bleibt die gleiche: Es wird die Idee eines ursprünglichen Volkes und einer geschlossenen sowie homogenen Gemeinschaft propagiert, aus der bestimmte Menschen von vornherein ausgeschlossen sind und niemals zugehörig sein können. Indem sich die AfD in ihrem Programm auch gegen eine Gleichstellung der verschiedenen Kulturen verwahrt und der deutschen einen höheren Rang beimisst, wertet sie darüber hinaus all jene Menschen ab, die nach ihrer Vorstellung nicht dazugehören.
Die Ausführungen der AfD im Grundsatzprogramm zum Zusammenhang von Nation, Identität und Kultur widersprechen somit dem leitenden Prinzip des Grundgesetzes, das die gleiche Würde aller Menschen garantiert, wie es in Artikel 1 Absatz 1 verfasst ist.
Mit dieser Programmatik ist die AfD auch in die Wahlkämpfe der letzten Jahre gezogen. Das Bundestagswahlprogramm von 2017 konkretisiert die rassistischen Vorstellungen. Es heißt dort u.a.:
„Der Islam gehört nicht zu Deutschland. In der Ausbreitung des Islam und der Präsenz von über 5 Millionen Muslimen, deren Zahl ständig wächst, sieht die AfD eine große Gefahr für unseren Staat, unsere Gesellschaft und unsere Werteordnung.“ (Bundestagswahlprogramm der AfD 2017, S.33)
Religionskritik ist legitim, aber was hier zum Ausdruck kommt, ist etwas vollkommen anderes. Allein die Präsenz von Muslim*innen in Deutschland wird als Bedrohung betrachtet. Die AfD festigt damit ihr national-völkisches Weltbild, wie es schon im Grundsatzprogramm zum Ausdruck kommt. Sie begründet eine Gefährdungslage für den Staat durch die bloße Anwesenheit von Personen mit einer bestimmten Religionszugehörigkeit. Wird allerdings einem Menschen seine Eigenschaft als Individuum aberkannt, indem er lediglich als Element einer bestimmten Gruppe wahrgenommen wird, läuft dies Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes zuwider, nach dem die gleiche Würde eines jeden Menschen einzig und allein aus seinem Menschsein resultiert. Die Vorstellung einer Gesellschaft, welche die Subjekteigenschaft des Menschen und den sich daraus ergebenden Anspruch auf Achtung aus etwas anderem herleitet als auf seine Existenz als Mensch, etwa aus Herkunft, Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit, ist verfassungswidrig!
Die nächste Bundestagswahl, dieselbe verfassungswidrige Agitation. Auch im Bundestagswahlprogramm der AfD von 2021 wird wieder unter der Überschrift „Deutsche Leitkultur statt 'Multikulturalismus'“ anhand der „Kultur“ eine deutliche Trennlinie zwischen „uns“ und „Anderen“ gezogen und ein unvereinbarer Gegensatz von Menschengruppen konstruiert:
„Unsere Identität ist geprägt durch unsere deutsche Sprache, unsere Werte, unsere Geschichte und unsere Kultur. Letztere sind eng verbunden mit dem Christentum, der Aufklärung, unseren künstlerischen und wissenschaftlichen Werken. Unsere Identität bestimmt die grundlegenden Werte, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die deutsche Leitkultur beschreibt unseren Wertekonsens, der für unser Volk identitätsbildend ist und uns von anderen unterscheidet. Sie sorgt für den Zusammenhalt der Gesellschaft und ist Voraussetzung für das Funktionieren unseres Staates. Die gemeinschaftsstiftende Wirkung der deutschen Kultur ist Fundament unseres Grundgesetzes und kann nicht durch einen Verfassungspatriotismus ersetzt werden. Kulturrelativismus und Multikulturalismus führen zu einem Neben- und Gegeneinander von Parallelgesellschaften, denen es an gemeinsamen Werten für das Zusammenleben fehlt. In einer derart fragmentierten Gesellschaft entstehen Konflikte, die kaum noch beherrschbar sind. Die AfD wird nicht zulassen, dass Deutschland aus falsch verstandener Toleranz vor dem Islam seine tradierte Kultur verliert.“ (AfD-Bundestagswahlprogramm 2021, S.158)
Die AfD behauptet, „Kultur“ sei unerlässliche Voraussetzung dafür, dass im Staat alles klappt. Sie schließt damit diejenigen Bevölkerungsteile, denen sie die Zugehörigkeit zu „unserer Kultur“ verwehrt, gleichzeitig davon aus, einen Beitrag zum Staat leisten zu können. Letztlich läuft es auch hier wieder darauf hinaus, die „Anderen“ in Form von „Parallelgesellschaften“ als eine Bedrohung und Gefahr für „uns“ anzusehen. Und auch hier wird das vorrangige Feindbild in Form des „Islam“ bestätigt. Indem die AfD zusätzlich behauptet, die „deutsche Leitkultur“ sei das Fundament des Grundgesetzes, setzt sie hier in anmaßender und verfassungsfeindlicher Weise das von ihr propagierte Weltbild an die erste Stelle einer Rangordnung der Normen unseres Zusammenlebens. Fundament des Grundgesetzes ist aber nicht die „Leitkultur“ der AfD, sondern es sind die garantierten allgemeinen Menschenrechte wie sie in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes zum Ausdruck kommen.
Die AfD denkt den Menschen nicht in Individuen, wie es das Grundgesetz verlangt, sondern in Gruppen. Das ist nicht originell, sondern typisch für extrem rechte Ideologien. Nicht die freie Entfaltung und Entwicklung der Einzelnen steht für die extreme Rechte im Vordergrund, sondern das Kollektiv. Das war schon bei der NPD und bei allen vorausgegangenen extrem rechten Bestrebungen und Parteien ebenso. Am deutlichsten drückt sich dieses Konzept in der bekannten Phrase der Nationalsozialisten aus: „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“
Diesem Denken hat der Parlamentarische Rat im Grundgesetz symbolträchtig gleich zu Beginn des des Verfassungstextes einen Riegel vorgeschoben und einen ersten Artikel formuliert, der als Leitstern für alles Folgende dient. Artikel 1 des Grundgesetzes stellt das Individuum über den Staat. Aus der historischen Erfahrung des NS-Regimes und in deutlicher Abkehr davon zogen die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Lehre, nicht der Mensch ist um des Staates willen da, sondern der Staat um des Menschen willen. Genau dieses drückt sich in Artikel 1 aus. Es handelt sich um die Essenz unserer Verfassung, und diese ist nicht verhandelbar. Auch diese Eigenschaft legt bereits das Grundgesetz selbst fest. Die sogenannte „Ewigkeitsklausel“ in Artikel 79 GG bestimmt, dass genau zwei Artikel der Verfassung nicht geändert werden dürfen. Einerseits handelt sich hierbei um Artikel 20, der die Rechtsstaatlichkeit und den Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland verbindlich als föderal, demokratisch und sozial vorschreibt. Zum anderen schlossen die Schöpfer*innen des Grundgesetzes einen Zugriff künftiger Generationen auf Artikel 1 aus. Die jedem Menschen durch sein alleiniges Menschsein innewohnende Würde ist in der Bundesrepublik immerwährend garantiert.
Aus der Darstellung oben lassen sich zwei wesentliche Sachverhalte zusammenfassen. Erstens: Artikel 1 des Grundgesetzes hat eine herausgehobene Bedeutung für unsere Verfassung. Zweitens: Die Vorstellungen der AfD zu Nation, Volk und Identität kollidieren genau und grundsätzlich mit eben diesem Artikel und zwar nicht nur durch Äußerungen von Einzelpersonen aus der Partei; der Konflikt ist bereits in ihrer Programmatik angelegt.
Die Tatsache, dass die Menschenwürde unantastbar ist, bedeutet nicht, dass sie nicht verletzt werden kann – leider ganz im Gegenteil. Eine Verletzung der Menschenwürde liegt vor, falls jemand in verachtender Weise, wörtlich: menschenverachtend, behandelt oder herabgewürdigt wird.
Ein Geschäft, das die AfD unentwegt betreibt. Der Staat ist verpflichtet auf den Schutz der Menschenwürde. So fordert es das Grundgesetz. Der Staat sind allerdings wir alle. Die Menschenwürde zu schützen, ist somit nicht eine Aufgabe der Regierungen und anderer staatlicher Institutionen allein. Der Menschenverachtung Einhalt zu gebieten ist nicht zuletzt eine gesellschaftliche Aufgabe für uns alle.