Ein Ereignis und seine Deutung
“Pidder Lüng” ist Detlev von Liliencrons Ballade vom trotzigen friesischen Willen, der lieber bricht als sich auf Sylt dem adligen Steuereintreiber zu beugen. Die Blockierer vom Fähranleger in Schlüttsiel zitieren im Nachhinein den alten Schlachtruf ‘Lewer duad as slaw’. Ihr Vergleich hinkt. Zwar ist es vom Hafen in Schlüttsiel nicht weit nach Sylt oder Hallig Hooge. Aber Robert Habeck ist nicht Henning Pogwisch. Feudalismus mit dem Schwert durchsetzen? Nein.
Quelle: t-online
Am 04.01.2024 wollte Deutschlands damaliger Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von einem privaten Besuch auf das Festland zurückkehren. Am Schlüttsieler Anleger ließ eine Menschenmenge ihn nicht von Bord. Die Blockade ließ außerdem einen Lkw nicht passieren, weil sich ein Bundesminister darin versteckt haben könnte.
In den Reihen der Aufwiegler wächst die falsche Vorstellung, man habe nichts Verbotenes getan. Da war es keine gute Situation, dass die Polizei in Schlüttsiel keine Personalien feststelle. Ein Einknicken vor der Gewalt unterminiert das staatliche Gewaltmonopol. Nimmt der Staat das hin, bestellt er dem Extremismus den Acker. Auch die nachgelagerte Kommunikation der Polizei war nicht gelungen. So nährte sich der Irrglaube, an dem Abend habe es keine Gewalt gegeben. Aber das Durchbrechen der Polizeikette am Fähranleger ist ein Landfriedensbruch und das Anhalten eines Lkws durch die Menschenmenge vor der Rampe ist eine Nötigung und damit Gewalt. Das muss man dann auch so kommunizieren und kenne ich von der Polizei sonst auch nicht anders.
Die Ermittlungen bei der Staatsanwaltschaft haben hier sehr lange gedauert. Wenn jetzt das Ermittlungverfahren fast zwei Jahre nach der Tat abgeschlossen werden kann, ist das wirklich höchste Zeit. Die Justiz möchte sich bestimmt nicht den Vorwurf gefallen lassen müssen, mit zweierlei Maß zu messen, landauf landab stehen Klimaativist*innen wegen Nötigung von geringem Gewicht vor Gericht.
Schlüttsiel war für kurze Zeit rechtsfreier Raum, die mangelnde Gewährleistung der Sicherheit für einen zu schützenden Bundesminister keine gute Situation und die Kommunikation Sicherheitsbehörden der Sicherheitsbehörden nicht geglückt.
All dies hat dazu beigetragen, dass an extremer Polarisierung interessierte Medien verbreiten, alles sei nur aufgebauschte Lüge. Von Anstand, der davon abhielte, Politikern privat aufzulauern, ist nichts zu sehen.
Die Deutschen dürfen für ihre Interessen friedlich protestieren, auch für gesellschaftliche Partikularinteressen, das ist legitim. Dafür haben wir uns als Gesellschaft den Rechtsstaat erarbeitet. Wir haben ein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit und Versammlungsgesetze, die politische Versammlungen schützen, selbst wenn diese spontan entstehen. Staatlichen Institutionen Bescheid geben wollte von Demonstranten in Schlüttsiel niemand. Von Beginn an war in Schlüttsiel kein Protest innerhalb der rechtsstaatlichen Ordnung gewollt.
Personen wie Holger Thomsen und Jann-Henning Dircks taten sich in erster Reihe hervor, obwohl auch sie sich nicht der Polizei als Ansprechpartner zeigten. Schon 2020 organisierten sie über exakt dieselbe WhatsApp-Gruppe, in der 2024 auch für Schlüttsiel mobilisiert wurde, ein Foto aus der Luft von der Landvolkflagge, nachgestellt durch hunderte Traktoren Geschichtsvergessener. Auch in Schlüttsiel war wieder die Landvolkflagge zu sehen.
Die Landvolkbewegung warf Ende der 1920er Handgranaten und Bomben auf Regierungseinrichtungen in Schleswig-Holstein. Ein Begründer der Bewegung wurde im “großen Bombenlegerprozess von Altona” als Terrorist verurteilt. Am 01. August 1929 kam es zum “schwarzen Sonntag” in Neumünster, einem blutigen Tumult mit der Polizei um die Landvolkflagge. Davon schrieb Hans Fallada schrieb in seinem Roman „Bauern, Bonzen, Bomben“. Im Film „Stumpfe Sense, scharfer Stahl“ ist der Antisemitismus der Landvolkbewegung klar sichtbar.
Stumpfe Sense – Scharfer Stahl, Bauern, Industrie und Nationalsozialismus | Filmautorin Quinka F. Stoehr
Die Landvolkbewegung war außerdem völkisch und gegen die parlamentarische Demokratie gerichtet. Genuin nationalsozialistisch war sie nicht, die NSDAP war bekanntlich ab 1923 verboten und ging nach ihrer Neugründung 1925 legalistisch vor, die Landvolkbewegung war deutlich rabiater. In den 1960er-Jahren schaffte es der Erfinder der Landvolkflagge sogar in den Landtag Schleswig-Holsteins - für die NPD. Ein anderer berüchtigter Landwirt aus Schleswig-Holstein ist Thies Christophersen, Autor des Buches “Die Ausschwitz-Lüge”. Jener verwendete die Landvolkflagge für die Titelseite seiner Zeitung “Die Bauernschaft” noch bis 1996. Auf diese Tradition beziehen sich jene, die unter dieser Flagge fahren.
Da stehen sie nun in Schlüttsiel, Jann-Henning Dircks und Holger Thomsen, das Grinsen des Triumphes im Gesicht. Es ist ein drängender Ruf zu vernehmen: ‘Rauf, alle rauf auf die Fähre!’.
Quelle: X
Der Rufer ist nicht zu sehen, aber der Geist unverkennbar. Jann-Henning Dircks rief schon früher nach dem Vorschlaghammer gegen Demonstranten. Diesen Schrei traue ich ihm auf jeden Fall zu. Dazu ist er noch gewählter Bürgermeister und als solcher dazu verpflichtet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten. Aktiv eintreten bedeutet mehr als nur tolerieren und schon gar nicht, diese zu bekämpfen. Wie das zusammenpasst, ist mir schleierhaft.
Frohgemut sehen sie nicht aus, weder die beiden noch die anderen in Schlüttsiel. In der Landwirtschaft gärt es. Ein Teil davon ist verständlich. Verstehen kann ich allerdings nicht, wieso sich dann nicht mit den wirklichen Ursachen auseinandergesetzt wird.
Diese Stimmungslage drückt sich in Bewegungen wie die „Freien Bauern“ und „Land schafft Verbindung“ aus, die genau wie die neue Rechte irgendwann ernten wollen, was sie säen. Womit wir dann bei der AfD wären, dorthin führt der Zorn, und siehe, Holger Thomsen und seine Lebensgefährtin von der AfD gehören dazu.
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Es sollen hier keineswegs alle in der Landwirtschaft über einen Kamm geschoren werden, es gibt vernünftige Stimmen. Der Bauernverband hat sich von den Geschehnissen in Schlüttsiel und von der Landvolkflagge deutlich distanziert. Das ist ein Fortschritt.
Unabhängig davon zieht sich diese Stimmung dennoch bis in den Vorstand des Schleswig-Holsteinischen Bauernverbandes. Ein Vorstandsmitglied, Gewinner eines “Agrar Influencer Award”, sprach wenige Tage vor Schlüttsiel in einem Video auf Facebook von einer Angliederung Deutschlands an Russland und schlug vor, Putin könne gleich nach Berlin durchzumarschieren, wenn er in der Ukraine fertig sei. Solche Rufe nach dem starken Führer gehen auf keine Kuhhaut und sind vollkommen verquer, um so mehr für jemanden, der jährlich staatliches Geld in sechsstelliger Höhe erhält.
Was wir zu betrachten haben: Das Anzweifeln der Realität. Die Ablehnung des Rechtsstaats. Am Ende steht die Delegitimierung der Demokratie. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit mag es hergeben, aber politischen Extremismus dürfen wir erkennen und als solchen benennen.
Es wäre schön, wenn all jene einmal tief Luft holten. Den amerikanischen Landwirten unter Donald Trump ergeht es wirtschaftlich schlechter.
Ja, Krisen nagen und Veränderungen verängstigen. Deren Bewältigung ist eine große Daueraufgabe für die absehbare Zeit. Alle müssen dazu einen Beitrag leisten und es nicht nur serviert bekommen wollen.
Was bleibt, wenn der Böllerdonner verebbt: Der Hafen in Schlüttsiel ist eine Allegorie. Die Grünen wollen Deutschland in Richtung einer lebenswerten Zukunft verändern. Doch vom Deich her bricht eine Horde schnaubend hervor, wilde Gespenster der Furcht. Blind stemmen sie sich gegen jeden Aufbruch, als müsste jede Neuerung ihr Untergang sein. Sie wollen das Gesicht der Veränderung nicht durchkommen lassen.
Die Veränderungen sind aber unausweichlich, mag die Gesellschaft bereit sein oder nicht. Die Verunsicherung und Ängste lösen bei einigen antimoderne Reflexe aus, sie wünschen sich eine heile Welt herbei, die es auch früher so nie gab. An diesem Punkt droht nicht nur in der Landwirtschaft eine kritische Masse vor lauter Angst sich in einer fatalen Richtung zu verrennen.
Wir stehen am Scheideweg und Weitblick ist nötig.
Wer unter der schwarz-weiß-roten Fahne der Landvolkbewegung fährt, hat den Pfad der Weisheit jedenfalls verlassen. Unter einem solchen Banner führt jeder Weg in die Nacht.
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