Vertrauen ist gut. Kontrolle ist besser. Das gilt auch für den Verfassungsschutz. Es liegt im Wesen eines jeden Nachrichtendienstes, dass er nicht öffentlich arbeitet. Die Funktionsweise der Nachrichtendienste ist darauf ausgerichtet, im Verborgenen zu agieren und sich nicht in die Karten schauen zu lassen. Das ist einerseits nachvollziehbar, jedoch andererseits birgt erhebliche Gefahren. Eine klandestine Arbeitsweise kann zur Folge haben, dass ein unkontrolliertes Eigenleben in den Diensten entsteht. Unser Verfassungsschutz ist jedoch, so wie jede andere Behörde auch, an Recht und Gesetz gebunden. Wir verfügen mit dem Parlamentarischen Kontrollgremium über ein Instrument, das die die Arbeit des Verfassungsschutzes überprüft. Um ein Eigenleben des Verfassungsschutzes zu verhindern, sind die Rechte des Parlamentarischen Kontrollgremiums deutlich zu stärken. Dafür setze ich mich ein!
“Die Verfassung eines Staates sollte so sein, daß sie die Verfassung des Bürgers nicht ruiniere.“
Stanislaw Jerzy Lec (polnischer Lyriker 1909-1966)
Was Stanislaw Jerzy Lec zur Verfassung sagte, ist richtig. Richtig ist auch, dass der Verfassungsstaat geschützt werden muss. Angesichts der Vielzahl und der Art an Herausforderungen mit denen der Staat – und das sind wir alle – sich konfrontiert sieht, wurden zu seinem Schutz verschiedene Institutionen und Instrumente eingerichtet. Um sich zu schützen, muss der Staat mitunter Dinge wissen, die typischerweise im Geheimen liegen, weshalb er an dieser Stelle auf nachrichtendienstliche Mittel zurückgreift und diese Aufgabe an einen Geheimdienst delegiert, der im Verborgenen operiert. Die Verfassungsgegner hätten sonst ein leichtes Spiel.
Wichtig ist dabei, dass es einen klar geregelten Informationsfluss vom Verfassungsschutz an die Polizei geben darf, damit nicht “hintenrum” die im Vergleich zur Polizei leichter zugänglichen Befugnisse des Verfassungsschutzes ausgenutzt werden können.
Leider kann es im Rahmen nachrichtendienstlicher Arbeit zu Auswüchsen kommen, die wir gerne verdrängen möchten, weil sie extrem unangenehm sind. Doch wir müssen diese Angelegenheiten in voller gesellschaftlicher Breite diskutieren, damit wirklich jeder versteht, warum wir den Verfassungsschutz kontrollieren müssen. In anderen Staaten der Welt, vor allem in Autokratien, sind die Inlandsgeheimdienste schlichtweg ein ganz zentrales Mittel der Machtausübung.
Um zu verdeutlichen, welche Probleme in Nachrichtendiensten auftreten können, möchte ich Beispiele nennen und beginne mit einem Blick auf den Komplex des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Im Zusammenhang mit den Verbrechen des NSU und deren Aufarbeitung mussten sage und schreibe die Leiter von fünf Landesverfassungsschutzämtern sowie der damalige Präsident des Bundesverfassungsschutzes aufgrund von desaströsen Versäumnissen oder inakzeptablem Fehlverhalten in ihrem Verantwortungsbereich ihren Hut nehmen.
Als eine besonders unappetitliche Episode möchte ich dazu die Rolle des damaligen Verfassungsschutzbeamten Andreas Temme beim NSU-Mord in Kassel herauspicken. Andreas Temme befand sich am Tatort, als der 21-jährige Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel 2006 erschossen wurde. Temme meldete sich aber nicht bei der Polizei, wodurch er in das Fadenkreuz der Mordkommission geriet, die sein Telefon abhörte. In einem durch die Kriminalpolizei abgehörten Gespräch mit einem Kollegen sagte Temme,
„… dass ja auch niemand außerhalb auch nur irgendwas darüber erfahren darf!“
Hier soll offensichtlich etwas vertuscht werden – unbedingt. Das darf nicht die Arbeitsweise einer Behörde in einem demokratischen Rechtsstaat sein. Ich denke, wir müssen dafür sorgen, dass die Öffentlichkeit von Dingen, wie sie hier dargestellt werden, rechtzeitig erfährt.
Temme erhielt später einen Anruf von Gerald-Hasso Hess, dem damaligen Geheimschutzbeauftragten des Verfassungsschutzes in Hessen, also derjenigen Person, die dafür sorgen soll, dass nichts nach außen dringt. In diesem Gespräch sagt Hess den folgenden Satz zu Temme:
„Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, dann bitte nicht vorbeifahren!“
Dieser Satz fehlte auffälligerweise in der Abschrift des abgehörten Telefonats durch die Polizei. Ich möchte betonen: Es ist nicht in Ordnung, wenn der Verfassungsschutz von einem Mordplan weiß und nicht reagiert -bzw. so wie Temme!
Außerdem gibt es eine Anweisung des Geheimschutzbeauftragten Hess an Temme, er solle sich
„… so nah wie möglich an der Wahrheit halten!“
Das bedeutet nichts anderes, als dass Temme eben nicht die Wahrheit sagen soll!
Wer möchte, kann sich die Tatortbegehung der Polizei mit Andreas Temme bei YouTube anschauen und sich selbst einen Eindruck verschaffen. Man sollte dabei in Erinnerung behalten, dass Herr Temme aussagte, von den Schüssen - als einziger Kunde im Internetcafé - nichts mitbekommen zu haben und beim Zahlen und Verlassen des Geschäfts weder die Leiche des Ermordeten Halit Yozgat hinter dem Empfangstresen noch die Blutspritzer auf dem Tresen bemerkt zu haben.
Ergänzend zur Person von Andreas Temme seien noch folgende Ermittlungsergebnisse erwähnt: So trug er in seinem Heimatort den Spitznamen “Klein-Adolf”, in seinem Haus wurde neben Waffen und Munition auch Literatur zur Zeit des Nationalsozialismus gefunden, die jedoch weniger dem zeitgeschichtlich-aufklärerischen Genre zuzuordnen ist, sondern eher die Interessen des wohlwollenden Bewunderers Nazideutschlands bedient. Zudem stießen die Ermittler auf von Temme eigenhändig abgetippte Passagen aus “Mein Kampf”. Eine “Jugendsünde”, so der ehemalige Verfassungsschützer. Es schießt mir dazu unweigerlich die Frage in den Kopf, wie der Verfassungsschutz eigentlich sein Personal rekrutiert. Wusste man dort nicht - wohlgemerkt bei einem Geheimdienst - mit wem man es zu tun hatte? Wer mit gesundem Menschenverstand denkt denn, eine Person wie Temme sei geeignet für den Dienst beim Verfassungsschutz? Vor wem oder was, bitte, soll so jemand die Verfassung denn schützen? So fragt auch der Journalist und Jurist Heribert Prantl bereits im Titel seiner 2015 erschienen Schrift:
“Wer schützt die Verfassung vor dem Verfassungsschutz?”
Heribert Prantl, dt. Journalist u. Jurist
Andreas Temme tauchte bei vollkommen anderen Ermittlungen übrigens noch einmal auf: In seiner Zeit beim Hessischen Verfassungsschutz stand er in Verbindung zum späteren Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke!
Herr Temme arbeitet nicht mehr für den Verfassungsschutz. Das Beamtenverhältnis wurde jedoch nicht aufgelöst. Er soll noch immer als Beamter in Hessen tätig sein. Der interne Bericht des hessischen Verfassungsschutzes zu den Vorgängen um Andreas Temme wurde für 120 Jahre gesperrt. Das heißt: Niemand von uns und auch nicht unsere Kinder oder Enkel sollen erfahren, was es mit der Person von Herrn Temme wirklich auf sich hat. Es bleibt Historikern künftiger Generationen vorbehalten, die Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme eventuell doch noch aufzuarbeiten.
Vielleicht noch unangenehmer – nur viel länger her – ist der unaufgeklärte Mord an dem 22-jährigen Studenten Ulrich Schmücker aus dem Jahr 1974. Die Tatwaffe wurde 15 Jahre später in einem Tresor des Berliner Verfassungsschutzes gefunden. Auf dieser wurden die Fingerabdrücke eines V-Mannes des Berliner Verfassungsschutzes und seines V-Mann-Führers gesichert. Verurteilt wurde trotz mehreren Anläufen eines Strafprozesses niemand.
Das ist lange her und es waren sicherlich andere Zeiten. Ich erwähne diesen Fall hier trotzdem, da man das hier nicht als Gerücht oder Verschwörungserzählung abtun kann. Es lässt sich an diesem Beispiel ablesen, wozu ein Inlandsnachrichtendienst in früheren Zeiten der Bundesrepublik Deutschland fähig war – und hoffentlich nicht mehr ist! Aber genau darauf gilt es ein wachsames Auge zu werfen.
Wer sich mit dieser Angelegenheit befassen beschäftigen möchte, kann sich bei YouTube gerne eine rbb-Dokumentation zum Thema anschauen. Doch Vorsicht: Ich warne vor der schlechten Laune, die man durch die Beschäftigung mit diesem Thema bekommen kann!
Wir wollen nicht, dass derlei Dinge zukünftig noch geschehen. Nie wieder – schon gar nicht bezahlt durch Steuergelder. Das Mittel der Wahl hierfür ist das Parlamentarische Kontrollgremium.
„Das ist eine Wurzel allen Übels: Von den bis heute bestehenden Unklarheiten bei der Rote-Armee-Fraktion über den NSU bis zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz. Die faktisch nicht existente Kontrolle in diesem Bereich sowohl bei der Fach- und Rechtsaufsicht als auch auf Seiten des Parlaments ist ein Sicherheitsrisiko ersten Ranges.“
Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen)
An dieser Stelle muss noch der der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen erwähnt werden. Der CDU-Politiker hat die AfD als Rechtsanwalt vor dem Bundesverfassungsgericht in dem Verfahren betreffend die Beobachtung der AfD vertreten und ist in der jüngeren Vergangenheit mehrfach durch deutlich rechtsgerichtete Wortmeldung aufgefallen, die letztlich sogar seine Partei dazu bewogen hat, ein Parteiausschlussverfahren in die Wege zu leiten. Vor diesem Hintergrund ist dürfte es wohl richtig sein, dass Herr Maaßen seine Karriere beim Verfassungsschutz nicht fortsetzen durfte.
Zwar ist der Verfassungsschutz in Schleswig-Holstein in der Vergangenheit von derlei Skandalen erfreulicherweise nicht betroffen gewesen. Dennoch muss das Parlamentarische Kontrollgremium in Schleswig-Holstein – wie auch auf Bundesebene und in den übrigen Bundesländern – deutlich weitere Kompetenzen im schleswig-holsteinischen Landesverfassungsschutzgesetz erhalten.
In unserem Wahlprogramm von Bündnis 90/Die GRÜNEN zur Landtagswahl 2022 heißt es dazu:
"Der Verfassungsschutz leistet eine wichtige Arbeit. Dennoch sind Reformen dringend notwendig. Wir planen eine solche Reform des Verfassungsschutzes, wollen unter anderem rechtliche klare Vorgaben, insbesondere für den Einsatz von Vertrauenspersonen und zur Datenspeicherung. Zudem wollen wir die parlamentarische Kontrolle weiter stärken."